Berlin (EAST SEA) Donnerstag, Januar 6th, 2022 / 09:11

Im Pazifischen Jahrhundert

Wirtschaftsvertreter warnen nach dem Inkrafttreten des weltgrößten Freihandelsabkommens RCEP zum 1. Januar vor ernsten Einbußen für die deutsche Industrie.

Deutschland und die EU drohen in der wichtigsten Wachstumsregion der Welt den Anschluss zu verlieren. Davor warnen Wirtschaftsvertreter mit Blick auf das hierzulande immer noch kaum bekannte größte Freihandelsabkommen der Welt (RCEP, Regional Comprehensive Economic Partnership), das zum 1. Januar in Kraft getreten ist. Es besteht aus 15 Staaten der Asien-Pazifik-Region, darunter die zweit- (China) und die drittgrößte (Japan) Volkswirtschaft der Welt; zusammen stellen die RCEP-Staaten knapp ein Drittel der globalen Wirtschaftsleistung. RCEP hat das Potenzial, internationale Lieferketten in seinen Mitgliedstaaten zu bündeln, Produktionsstätten abzuwerben – so etwa auch aus Deutschland – und global wichtige Handelsnormen und Industriestandards zu setzen. Das neue Freihandelsbündnis ist ein struktureller Ausdruck der Kräfteverschiebung vom Atlantik zum Pazifik sowie der Abkehr ehemaliger Kolonien von ihren ehemaligen Kolonialmächten. Deutsche Wirtschaftsvertreter dringen auf rasche Maßnahmen, um drohende Einbußen für die deutsche Industrie zu verhindern.

Eine ASEAN-Initiative

Das asiatisch-pazifische Freihandelsabkommen RCEP (Regional Comprehensive Economic Partnership) geht ursprünglich auf eine Initiative des südostasiatischen ASEAN-Bündnisses zurück, das auf seinem Gipfel im November 2012 im kambodschanischen Phnom Penh erste Verhandlungen dazu in die Wege geleitet hatte. Hintergrund war der Plan, die diversen unterschiedlichen Freihandelsabkommen, die ASEAN bereits geschlossen hatte, in einem einzigen, übersichtlichen Vertrag zu bündeln. Das ist mit RCEP im Wesentlichen gelungen. Die zentrale Rolle, die ASEAN dabei spielt, kommt bis heute darin zum Ausdruck, dass „das ASEAN-Sekretariat in Jakarta für die administrative Unterstützung des RCEP zuständig“ ist, wie es in einer aktuellen Analyse der Konrad-Adenauer-Stiftung (CDU) heißt. So werden beim ASEAN-Sekretariat auch „die Ratifizierungsdokumente hinterlegt“.[1] Umgesetzt wird der Vertrag seit dem 1. Januar von sechs ASEAN-Mitgliedern (Vietnam, Laos, Kambodscha, Singapur, Brunei, Thailand), von China und Japan, Australien und Neuseeland. Südkorea wird Anfang Februar folgen; in Kürze wird dies außerdem von Indonesien, Malaysia und den Philippinen erwartet. Myanmar hat sein Ratifizierungsdokument bereits in Jakarta hinterlegt; ob es akzeptiert wird, ist allerdings wegen des dortigen Militärputschs noch nicht klar.

Abkehr von den Kolonialmächten

Technisch gilt RCEP unter Experten als nicht allzu anspruchsvoll. So beschränkt es sich im Unterschied zu anderen Freihandelsabkommen weitestgehend darauf, Zölle und weitere Handelsschranken abzubauen sowie die Ursprungsregeln zu vereinheitlichen. Für manche Anpassungen wurden recht lange Übergangsfristen von bis zu 20 Jahren vereinbart; Regeln zum Handel mit Dienstleistungen sind schwach, Klauseln zu Arbeiter- und Menschenrechten und zum Umweltschutz fehlen. Strategisch hat RCEP jedoch erhebliche Bedeutung. Zum einen bringt es erstmals China und Japan – die zweit- und die drittgrößte Volkswirtschaft der Welt – sowie Japan und Südkorea in einem Freihandelsbündnis zusammen; das begünstigt eine weitere Intensivierung des chinesisch-japanischen Handels und wirkt US-Bestrebungen zur Entkopplung der Volksrepublik von den westlichen Ländern sowie deren Verbündeten entgegen. Zum anderen handelt es sich um einen rein asiatisch-pazifischen Handelspakt. Waren vor allem die ehemaligen Kolonien Südostasiens lange Zeit stark auf den Handel mit den einstigen Kolonialmächten Europas und Nordamerikas orientiert, so lösen sie sich nun umfassend von ihnen und richten sich systematisch auf den innerasiatischen Handel aus. Damit steht dem Westen langfristig ein weiterer Einflussverlust bevor.

„Schärfere Konkurrenz“

Für die deutsche Wirtschaft wiegt das schwer, da die RCEP-Länder große Bedeutung für sie haben. So beläuft sich der Bestand deutscher Direktinvestitionen in ihnen auf 178 Milliarden Euro; davon entfällt rund die Hälfte allein auf China. Lediglich in den Vereinigten Staaten haben deutsche Unternehmen mehr investiert – insgesamt gut 391 Milliarden Euro. Das Volumen des Außenhandels mit den RCEP-Länden erreichte im Vorkrisenjahr 2019 gut 363 Milliarden Euro und damit rund 15 Prozent des gesamten deutschen Außenhandels; der Außenhandel mit dem gesamten amerikanischen Kontinent lag bei einem Anteil von nur elf Prozent. Lediglich die EU ist für die deutsche Wirtschaft wichtiger als die RCEP-Staaten.[2] Das neue Freihandelsabkommen wird nun aber dazu führen, dass zum Beispiel japanische Unternehmen günstigeren Marktzugang in China erhalten und dort, wie der Delegierte der Deutschen Wirtschaft in Beijing, Jens Hildebrandt, erläutert, „in Zukunft eine stärkere Konkurrenz … darstellen“ – „zum Beispiel für deutsche Automobilhersteller“.[3] Laut einer Studie der UN-Handels- und Entwicklungsorganisation Unctad wird RCEP die Ausfuhr der EU in die RCEP-Länder um 8,3 Milliarden Euro schrumpfen lassen, die Ausfuhr der USA um 5,1 Milliarden US-Dollar. Die asiatischen Volkswirtschaften hingegen werden wachsen – die südkoreanische um 6,7 Milliarden US-Dollar, die chinesische um 11,2 Milliarden US-Dollar, die japanische um 20,2 Milliarden US-Dollar.

„Zulasten des Standorts Deutschland“

Weitreichende Verschiebungen zeichnen sich zudem für die internationalen Lieferketten ab. So schließt das RCEP-Regelwerk zwar die Verwendung von Vorprodukten etwa aus der EU nicht aus, begünstigt aber die Nutzung von Vorprodukten aus RCEP-Ländern. Langfristig stärkt das die Konzentration von Lieferketten innerhalb des neuen Freihandelsbündnisses; dies schwächt tendenziell Zulieferer aus Europa und Nordamerika, aber auch aus asiatischen Ländern wie Indien und Taiwan, die RCEP nicht angehören. Indien hatte eine Zeitlang den Beitritt zu dem Bündnis in Betracht gezogen und an den Verhandlungen teilgenommen, sich aber zuletzt gegen eine Mitgliedschaft entschieden – unter anderem, weil in der indischen Wirtschaft Befürchtungen dominierten, mit der chinesischen Konkurrenz nicht mithalten zu können. Indiens Fernbleiben stärkt freilich den Einfluss Chinas innerhalb von RCEP. Die Begünstigung des innerasiatischen Handels fördere außerdem die Tendenz, China „als Exportplattform in den asiatischen Raum“ zu nutzen, anstatt die Märkte Japans, Südkoreas oder der ASEAN-Staaten durch Direktexporte aus Deutschland zu bedienen, wird Jürgen Matthes vom Kölner Institut der Deutschen Wirtschaft (IW) zitiert; das könne letztlich „zulasten des Standorts Deutschland gehen“.[4]

Wer die Regeln setzt

Schließlich kommt noch hinzu, dass das RCEP-Bündnis wegen seines ökonomischen Gewichts daran gehen wird, „neue Regeln und neue Standards“ für Handel und Industrie zu entwickeln, konstatiert Wendy Cutler, eine ehemalige US-Regierungsmitarbeiterin, die heute als Vizepräsidentin des Asia Society Policy Institute tätig ist.[5] Das hat zur Folge, dass die Staaten Europas und Nordamerikas zum ersten Mal nicht an der Formulierung wichtiger weltwirtschaftlicher Normen beteiligt sein werden – ein weiterer Beleg dafür, welche Folgen die Verschiebung der ökonomischen Gewichte in die Asien-Pazifik-Region mit sich bringt. US-Präsident Joe Biden hatte bereits im November 2020 – damals noch als President-elect – seinen Unmut darüber geäußert und erklärt, die Vereinigten Staaten müssten „die Verkehrsregeln bestimmen, anstatt China und andere die Ergebnisse diktieren zu lassen“.[6] Berichten zufolge ist in Washington längst die Suche nach Wegen im Gang, den USA die Kontrolle über das Setzen von Standards und Normen auch in Asien zu sichern und damit RCEP Einfluss zu nehmen.

„Den Anschluss nicht verlieren“

Auch deutsche Wirtschaftsvertreter machen Druck. In den RCEP-Ländern würden jetzt „für die Unternehmen Nägel mit Köpfen gemacht“, urteilt Volker Treier, Außenhandelschef des Deutschen Industrie- und Handelskammertags (DIHK); „umso wichtiger“ sei es jetzt für Deutschland und die EU, „den Anschluss nicht zu verlieren“.[7] Eine Lösung könne darin bestehen, die längst in Arbeit befindlichen Freihandelsabkommen der EU mit Indonesien oder auch mit Indien endlich unter Dach und Fach zu bringen. „Entscheidend“ sei, „dass die neue Bundesregierung rasch zum positiven Impulsgeber in der EU-Handelspolitik wird“, erklärt der DIHK-Funktionär.

Quelle: https://www.german-foreign-policy.com/news/detail/8802/

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